Die Europameisterschaft in England: Hochklassig, divers und tolerant

B42

21.07.2022 Lesezeit: 3 min

Brentford, im Westen Londons, 17:00 Ortszeit. Es ist ein für Londoner Verhältnisse heißer Sommertag, die Temperaturen liegen bei 30°. 

Ich sitze mit Freundinnen am Themse-Ufer vor einem der zahlreichen Pubs, wenige Gehminuten vom Community Stadion in Brentford entfernt, und genieße ein kühles Bier. 

Die Sonnenstrahlen reflektieren im kühlen Nass, die Vorfreude auf den weiteren Verlauf des Abends steigt von Minute zu Minute. 

Das wichtigste Fußballturnier des Jahres!? 

Worauf wir uns freuen?

Das EM-Auftaktspiel der deutschen Nationalmannschaft gegen Dänemark! Und wir sind nicht allein. 15.000 Fußballfans pilgern mit uns von Pub zu Pub langsam Richtung Stadion darunter mehrere Tausend aus Deutschland und Dänemark, extra angereist zur Europameisterschaft. 

Die Stimmung ist ausgelassen und freundschaftlich. Es sind Momente wie diese auf die wir uns jeden Sommer freuen, die Zeit der Weltmeisterschaften und Europameisterschaften im Fußball.  

Naja, fasst immer jedenfalls. Hin und wieder kommen ein paar korrupte Sportfunktionäre auf die Idee, dass sich so ein Turnier auch ganz gut in Katar machen würde. Im Winter. Das gemütliche Bier am Flussufer wird dann eine Utopie. Zumindest vor Ort. Denn Alkohol wird es nur an wenigen ausgewählten Orten zu kaufen geben, und zu horrenden Preisen. 

Und unsere Gruppe? Wäre offiziell nicht legal. Eine meiner Freundinnen ist lesbisch, die andere bisexuell. Beide engagiert in der Community. Homosexualität ist in Katar nach wie vor verboten. Dementsprechend wurden homosexuelle Besucher vom Emir bereits gebeten, „die Kultur des Landes zu respektieren“. 

Die Europameisterschaft in England steht also für alles das wir am Fußball lieben – internationaler Austausch, gemeinsames Feiern, Diversität, Toleranz – und vieles was in wenigen Monaten bei der Weltmeisterschaft verboten oder zumindest limitiert sein wird. 

Fußball der Spitzenklasse

Und ob die WM spielerisch mit dieser EM mithalten kann, ist die nächste, vollkommen berechtigte Frage. Was uns Europas beste Teams derzeit auf englischem Rasen anbieten ist weltklasse und unterhaltsam. 

Die Deutschen gewinnen ihr Auftaktspiel gegen enttäuschende Däninnen mit 4:0 und begeistern mit dynamischen und kreativen Offensivfußball. Wenige Tage später – wir sind wieder vor Ort – zeigt die deutsche Mannschaft gegen Spanien ein anderes, aber nicht weniger beeindruckendes Gesicht.  

Mit einer fantastischen Defensivleistung werden die Spanierinnen – leider ohne ihre am Kreuzband verletzte Weltfußballerin Alexia Putellas – mit 2:0 besiegt. Die Temperaturen sind nochmal höher, das Spiel nochmal intensiver. 

Am Tag darauf endet meine persönliche Zeit in England. Leider. Mit der Hoffnung und im festen Glauben, dass die deutsche Mannschaft um unsere Markenbotschafterin Lina Magull noch ein bisschen länger bleiben darf, geht es zurück nach München, das EM-Fieber im Gepäck. 

Denn diese Europameisterschaft begeistert. Vor allem auch fußballerisch. Und das auch abseits der deutschen Mannschaft. Denn was uns fast noch ein wenig mehr freut als deren Erfolg, ist das insgesamt hohe Leistungsniveau und die sichtbare Entwicklung des Frauenfußballs im Gesamten.  

Das Spiel ist technisch und taktisch längst auf dem Level der Männer angekommen, die Mannschaft von Martina Voss-Tecklenburg zeigt eine Klasse und Variabilität, die wir bei den männlichen Pendants seit 2014 nicht mehr bewundern durften. Auch athletisch setzt diese EM neue Maßstäbe. Oder in den Worten des betagten englischen Fußballliebhabers, der im Spiel gegen Spanien hinter mir saß und das Spiel wie folgt kommentierte: „I’ve never seen such an intensity. Maybe Klopp against Guardiola.“ 

Die Zuschauerzahlen explodieren

Die logische Konsequenz?

Die Menschen gehen ins Stadion und schauen sich diese Spiele an. Nach 16 von 31 Spielen hatte diese Europameisterschaft mit 248.075 Stadionbesuchern bereits einen neuen Zuschauerrekord aufgestellt. Am Ende werden es wahrscheinlich eine halbe Million sein. 

Das zeigt auch, dass die Bundesliga mit ihrem Zuschauerschnitt bei um die 1.000 weder zeitgemäß noch repräsentativ ist.  

In Barcelona verfolgten über 90.000 die Viertel- und Halbfinalspiele in der UWCL gegen Real Madrid und den Vfl Wolfsburg. 

Beim EM-Eröffnungsspiel England gegen Österreich pilgerten fast 70.000 ins altehrwürdige Old Trafford. Das Finale im Wembley-Stadion war bereits vor dem ersten Spiel restlos ausverkauft.  

Insgesamt wurden bisher knapp 9.000 Tickets nach Deutschland verkauft. Für die WM in Katar sind es bisher nicht mal halb so viele. 

Und auch anderswo wird gerade Fußball gespielt und vor allem geschaut. In Marokko findet derzeit der Afrika-Cup statt, bei dem sich die Marokkanerinnen fürs Heim-Finale qualifiziert haben. Zuschauerzahl im Halbfinale gegen Nigeria? 45.000! 


Der Weg, der vor uns liegt…

Während wir in Deutschland uns also noch über die miserablen Zuschauerzahlen in den heimische Ligen Gedanken machen müssen, ist der Fußball in anderen Ländern längst als Sport der ganzen Gesellschaft, mit der ihr zugrunde liegenden individuellen Diversität begriffen worden.

In England wird derzeit sogar eine komplett andere Debatte geführt. Im Mutterland des Fußballs, dessen erste Liga letzte Saison einen viermal höheren Zuschauerschnitt verzeichnet hat als hierzulande, wird während der EM über ethnische Diversität diskutiert. 

Es geht schon gar nicht mehr um Akzeptanz und Respekt für den Frauenfußball – daran wird schon lange erfolgreich gearbeitet – sondern darum, dass er zu „weiß“ ist und nicht die ganze gesellschaftliche Vielfalt des Landes repräsentiert.  

Es wäre anmaßend zu sagen, „schön wer sich solche Probleme leisten kann“. Wir sollten es viel mehr als Ansporn und Motivation sehen. Unser Weg zur Gleichberechtigung ist noch sehr weit. Und Gleichberechtigung hat viele Facetten! 

Was für ein Potential! 

Grundsätzlich überwiegen derzeit aber Unterstützung und Begeisterung. Unterstützung für die Spielerinnen und Verantwortlichen, die uns gerade dieses Fußballfest bereiten und fantastische Botschafter*innen für unseren Sport sind. Begeisterung über das was wir gerade täglich zu sehen bekommen.  

Der Frauenfußball setzt gerade neue Maßstäbe und zeigt uns sein gesamtes Potential. Zum einen als „neuer“ Markt für Fernsehen, Sponsoren und alle anderen ökonomischen Akteure des Sports. Zum anderen Fußball als Sport und Erlebnis neu zu definieren. Diese gesellschaftliche Dimension sollte bei all dem Hype auf gar keinen Fall vergessen werden. 

Das Publikum bei dieser EM ist jung und divers. Es ist die Zukunft unserer Gesellschaft. Dieser Fußball besticht durch Intensität und Fairness. Kaum Schwalben, kein hollywoodreifes Simulieren, sowie eine große Portion Respekt vor den Schiedsrichterinnen und ihren Entscheidungen. Zudem kennt er viel weniger toxische Maskulinität, Rassismus oder Homophobie. Auf und neben dem Platz.  

Natürlich sind die Fanlager weniger institutionalisiert und die Fankultur an sich erst im Entstehen. Aufwendige Choreografien und eine Vielzahl von Fangesängen bleiben Mangelware. Fußballpuristen wie mir fehlt im Moment noch genau das, die Tendenz geht in Richtung Eventpublikum. Aber es wäre unfair dieser Entwicklung und diesen Fans keine Chance zu geben, uns genauso zu begeistern wie das Geschehen auf dem Platz.  

Denn die Begeisterung ist ansteckend. Der Fußball auf dem Platz ist großartig. Die Europameisterschaft in England ist in vielem vorbildlich für das, was Fußball im 21. Jahrhundert sein sollte: jünger, weiblicher, diverser, toleranter. 

Lieber Tamim bin Hamad al-Thani, Emir von Katar: Das ist es, was wir respektieren werden!

Über den Autor

Unser Autor Jan-Philipp Grande (27) war knapp 20 Jahre selber als Fußballer aktiv. Zuletzt hat er an der Sporthochschule in Köln Internationale Sportentwicklung und -Politik (M.A.) studiert. Seine Leidenschaft für den Fußball geht – auch mangels eigenen Talents – über das Sportliche hinaus. Er beschäftigt sich intensiv mit den gesellschaftlichen und politischen Hintergründen im Fußball und im Sport generell. Seit 2020 v.a. auch für B42, inzwischen als Head of Corporate Social Responsibility.