Deutschland gegen Japan – Eine Niederlage und ihre dramatischen Folgen

B42

23.11.2022 Lesezeit: 3 min

Wolfsburg, 09. Juli 2011. Die deutsche Nationalmannschaft bestreitet ihr WM-Viertelfinale gegen Japan.

Die Volkswagen-Arena ist mit 26.067 Zuschauer*innen restlos ausverkauft. Und alle – im Stadion und vor den Bildschirmen – sind sich einig: dieses Spiel ist nur eine weitere Pflichtaufgabe auf dem Weg zum WM-Titel im eigenen Land. Das Team von Silvia Neid ist seit 15 WM-Partien ungeschlagen und dementsprechend nicht nur wegen des Heimvorteils klarer Favorit.

Doch es kommt – wie so häufig im Fußball – natürlich anders. Zwar dominiert die deutsche Nationalmannschaft das Spiel, wird aber nur selten wirklich gefährlich. Die wenigen Tormöglichkeiten werden vergeben und in der Verlängerung geschieht das, was im Vorfeld unmöglich erschien.

Die Japanerinnen erzielen das einzige Tor des Spiels und stehen im Halbfinale.

Für Deutschland bleibt nur das enttäuschende Aus im Viertelfinale und der Frauenfußball erfährt jahrelangen Stillstand.

Eine Heim-WM zum perfekten Zeitpunkt

Dabei war der Frauenfußball in Deutschland im 2011 am Höhepunkt seiner vergleichsweisen kurzen Geschichte (legal seit 1970) und blickte auf ein extrem erfolgreiches vergangenes Jahrzehnt zurück.

Deutsche Vereinsmannschaften gewannen, seit ihrer Einführung 2001, sechs von zehn UEFA Women’s Champions League-Titel (bis 2010 UEFA Women’s Cup).

Die Nationalmannschaft gewann die letzten beiden Weltmeisterschaften und die letzten fünf!!! Europameisterschaften.

Selbstverständlich verschwand der deutsche Frauenfußball auch nach dem Viertelfinalaus nicht umgehend in der Bedeutungslosigkeit.

Auch in den nächsten Jahren triumphierten deutsche Vereinsmannschaften in der UWCL und auch der EM-Titel konnte zwei Jahre später nochmals verteidigt werden.

Aber: der Trend ging seitdem jahrelang rapide bergab.
Kein großer Vereinstitel seit 2015 auf europäischer Ebene.
Nach 2013 bis diesen Sommer, ein vierter Platz bei Welt- und Europameisterschaften als bestes Ergebnis bei großen Turnieren.
Und auch der Olympia-Titel 2016 ist in Relation zu den zwei verpassten Qualifikationen 2012 & 2020 nur eine trügerische Wiederauferstehung gewesen.

Ein WM-Hype, der keiner war.

Ein zentraler Grund war ein künstlich generierter WM-Hype, der falsche Erwartungen und Hoffnungen geweckt hatte. Außerdem ein Verband und eine Öffentlichkeit, die das enttäuschend frühe WM-Aus als willkommene Legitimation verstand, den Frauenfußball in den Dornröschenschlaf zu versetzen.

Starke Strukturen und Förderkonzepte im Breiten- und Spitzensport? Eine erhöhte mediale Präsenz? Eine nachhaltige, erhöhte öffentliche Aufmerksamkeit und Anerkennung? Fehlanzeige!

Was sich heute mehr als elf Jahre später leicht rekapitulieren lässt, wurde bereits damals von einigen wenigen vorhergesagt und liest sich wie die im Nachhinein geschriebene Zusammenfassung der letzten Jahre.

Der Sportsoziologe Thomas Alkemeyer hat zwei Tage nach dem WM-Finale in der Süddeutschen Zeitung folgende Prognose publiziert:

„Schafft es der Frauenfußball nach dieser WM-Inszenierung, sich durchzusetzen? Wahrscheinlich nicht, denn ihm fehlt etwas Entscheidendes: das Gedächtnis. Er hat keine Klassiker, keine Mythen, keine Helden.“

Und weiter:

In unserer westeuropäischen Sportkultur, in der Fußball derart im Zentrum steht und mit Männlichkeit assoziiert ist, wird es der Frauenfußball noch schwerer haben, sich durchzusetzen.

Wiederauferstehung im Mutterland

Und so war es dann auch. Während fünf Jahre zuvor, sich alle Deutschen als Fußballfans outeten, war die WM-2011 für den durchschnittlichen Fußballfan höchstens ein nettes Sommer-Turnier. Keine Fußball-WM, sondern eine Frauenfußball-WM eben.

Der deutsche Männerfußball hingegen setzte an zu einem nie gekannten Höhenflug. Deutsche CL-Finale 2013, WM-Titel 2014.

Da war sie die Klassiker, Mythen und Helden des deutschen Fußballs.
Bayern gegen Dortmund und Deutschland gegen Argentinien, Wembley und Maracana, Lahm und Schweinsteiger.

Sie haben nur leider nicht den ganzen deutschen Fußball repräsentiert.

Erst seit diesem Sommer werden diese Kategorien endlich auch wieder weiblich besetzt. Deutschland gegen England, Wembley, Lina Magull und Lena Oberdorf.

Da sind sie die Klassiker, Mythen und Held*innen des deutschen Fußballs der Gegenwart.

Diese wunderbare Entwicklung ist allerdings ganz allein Verdienst unserer 23 EM-Heldinnen – denn das sind sie ganz zweifelsfrei auch ohne finales Happy-End – und nicht unserer, der breiten Fußballöffentlichkeit, den Medien und Verbänden.

Und sie werden es auch erstmal bleiben. Denn unabhängig vom heutigen erneuten Aufeinandertreffen zwischen Deutschland und Japan:

Diese WM kennt keine Klassiker. Nur Katar gegen Ecuador.
Diese WM kennt keine Mythen. Nur menschliche Tragödien.
Diese WM kennt keine Held*innen. Nur Opfer.

Wind of change?

Und somit verändert sich unser Sport. Die Vorzeichen drehen sich. Und bleiben doch gleich.

Vor elf Jahren endete die WM einer deutschen Nationalmannschaft gegen Japan.
Die Folge war ein elf-jährigen Dornröschenschlaf und Niedergang des deutschen Frauenfußballs, sowie eine Hochphase des Männerfußballs.

Heute beginnt die WM einer deutschen Nationalmannschaft gegen Japan.
Das Spiel heute Nachmittag gegen Japan ist Teil einer großen Niederlage des deutschen Fußballs.
So wie das letzte WM-Spiel gegen Japan vor elf Jahren.
Wieder liefern Verbände im Kontext dieses Spiels abseits des Sportlichen eine schwache Leistung ab.

Aber: Fußballdeutschland hat endlich wieder Heldinnen. Und die nimmt uns niemand mehr weg.
Die Europameisterschaft in England hat uns gezeigt, was wir mit unserer Ignoranz in den letzten Jahren verpasst und wissentlich verdrängt haben.
Sie hat uns gezeigt, worum es um Fußball wirklich geht.
Um den Sport. Um das Spiel. Um die Leidenschaft. Und um Werte.

Und warum die Attraktivität des Fußballs von allem abhängt außer dem Geschlecht.