Katar und seine Gastarbeiter

B42

30.11.2022 Lesezeit: 3 min

Der Fehlschluss nach dem Fortschritt...

Die Weltmeisterschaft in Katar und seine Gastarbeiter.

Ein Gegenstand öffentlicher Debatte, die uns seit Vergabe dieser Weltmeisterschaft im Jahr 2010 begleitet.

Eine Problematik, vor der wir viel zu lange die Augen verschlossen haben, um dann umso vehementer, aber ergebnislos zu opponieren.

Eine Thematik, für manche Grund zum Boykott, für andere leuchtendes Beispiel für Fortschritt und damit Legitimierung der Vergabe.     

Es ist eine Legitimierung basierend auf einem fundamentalen logischen Fehler.

Die Chroniken von Katar

Aber lasst uns Schritt für Schritt vorgehen. Worum geht es eigentlich und was ist passiert. Wir beginnen also mit einer kurzen Rekapitulation und Chronologie der Ereignisse:


Zürich, 2. Dezember 2010.

Die 22 Mitglieder des FIFA-Exekutiv-Committee kommen zusammen, um über die Vergabe der Weltmeisterschaften 2018 und 2022 zu entscheiden.

Das Ergebnis: Die WM 2018 geht nach Russland. Die WM 2022 nach Katar. Beides wirft Fragen auf – vor allem bezüglich der Werte und mangelhafter Einhaltung der Menschenrechte, sowie die jeweilige (fehlende) Fußballtradition in den angehenden Austragungsländern.

Ersteres wird bereits damals regelmäßig in Berichten von Amnesty International bestätigt und ist bei der Vergabe somit keine Unbekannte.


Katar, 11. Mai 2011.

Die Entscheidung die WM 2022 war von Beginn an mit Korruptionsvorwürfen begleitet, welche jetzt ihren Höhepunkt erreichen.

Die Rede ist von 20 Millionen Dollar als kleine Aufwandsentschädigung fürs „Arm hochheben“ an die Mitglieder des FIFA Exekutiv-Committee.

Mohamed Bin Hammam, Präsident der asiatischen Konföderation und damals FIFA-Präsidentschaftskandidat, weist alle Korruptionsvorwürfe gegen sein Land zurück.

Ende des Monats wird er aus der FIFA ausgeschlossen. Lebenslang. Wegen Korruption.

Die WM allerdings bleibt in Katar.


Deutschland, 04. November 2013.

Menschenrechtsverletzungen in Katar werden mehr und mehr zum Thema in der Öffentlichkeit. Der englische Guardian berichtete zuvor über verstorbene nepalesische Gastarbeiter.

Grund genug für Deutschlands höchste Fußballinstanz – den Kaiser – ein Machtwort zu sprechen. Seine Worte bis heute legendär: „Ich hob noch nicht einen einzigen Sklaven in Katar gsehn!“


London, 23. Februar 2021

Erneut berichtet der Guardian über Tote auf Katars WM-Baustellen. Und veröffentlicht zum ersten Mal eine konkrete Zahl: 6.500.
Sechstausendfünfhundert.


Virtuelle Pressekonferenz, 19. März 2021.

FIFA-Präsident Gianni Infantino lobt die Menschenrechtslage in Katar:
"Wir müssen uns auch die Geschichte angucken, wo Länder herkommen. Fortschritt ist passiert, das wurde nicht nur von der FIFA, sondern auch von internationalen Organisationen festgestellt. Es ist ein Prozess. Aber das kann nur durch Dialog und Respekt passieren."


London, 14. September 2021

Amnesty International spricht sich gegen einen WM-Boykott aus. Amnesty-Expertin Lisa Salza erklärt, die Organisation wolle vielmehr "die internationale Aufmerksamkeit nutzen".


al-Chaur, Katar, 20. November 2022

Katar bestreitet das Eröffnungsspiel der FIFA-Weltmeisterschaft gegen Ecuador. Anpfiff zur laut Infantino „besten WM aller Zeiten“.

Was bleibt sind die Fragen.

Was wissen wir?

1. Wir gehen über Leichen

Die Weltmeisterschaft findet statt. Und sie wird als Präzedenzfall dienen. Dafür, dass es kein Problem für die entscheidenden Akteure ist, wenn Menschen für das größte Einzelsportevent mit ihrem Leben bezahlen. Beim Bau von Fußballstadien, Hotels und sonstiger Infrastruktur.

Die Todeszahlen variieren stark – von drei bis über 15.000 Opfern ist die Rede. Am Ende ist es auch egal. Jedes einzelne ist eines zu viel. Was zählt, ist, dass man bereit ist über Leichen zu gehen.

2. Hinschauen wollen wir nur punktuell

Wir wissen auch, dass unsere moralische Verurteilung natürlich etwas oberflächlich ist. Vor der Vergabe haben uns die dortigen Menschenrechtsverletzungen und Arbeitsbedingungen kaum interessiert. Und sie tun es auch jetzt nicht in anderen Ländern mit ähnlich prekären Bedingungen.

3. Die Arbeitsbedingungen haben sich verbessert

Was zynisch klingt stützt sich trotz allem auf ein Fünkchen Wahrheit. Und dient als Legitimation bei allen Unterstützern dieses Turniers.
Basierend auf einem im Jahr 2020 beginnenden Reformprogram hat Katar das so genannte Kafala-Beschäftigungssystem abgeschafft und einen monatlichen Mindestlohn eingeführt.
Zumindest auf dem Papier. Die wirkliche Umsetzung lässt sich nur schwer verifizieren.

Die Logik der Legitimation

Allerdings ist dieses Argument – die Arbeitsbedingungen in Katar haben sich seit der Vergabe verbessert – zentral für all diejenigen, die die Weltmeisterschaft in Katar unterstützen und/oder anderweitig mit dem Land im Fußball kooperieren.

Vorsicht bei kulturellem Imperialismus!

Der Grundgedanke ist dabei vollkommen nachvollziehbar und in vielerorts auch faktisch verifizierbar. Es gibt zahlreiche historische Beispiele, bei denen ein Austausch von bzw. zwischen Kulturen zu Wandel und Fortschritt geführt haben. Technisch, kulturell und ökonomisch.

Außerdem sollten wir – das „wir“ bezieht auf unsere westliche Wertegemeinschaft – mit ein wenig Demut und Reflexion auf einen solchen Austausch blicken. Meistens findet dieser Austausch zwischen zwei Akteuren statt, die sich im Kräfteungleich befinden. Dementsprechend ist der Grat zwischen einem Austausch auf Augenhöhe und dem Aufzwängen von Werten ein sehr schmaler. Einige der anschaulichsten Beispiele für so einen „Fortschritt“ basierend auf Zwang ist die Öffnung Japans nach außen im 19. Jahrhundert – Stichwort Kanonenbootpolitik – oder die „gutgemeinte“ Demokratisierung zahlreiche Länder im 20. und 21. Jahrhundert.

Deswegen dürfen wir die Vergabe auf keinen Fall mit der normativen Dynamik „wenn ihr unsere WM ausrichten wollt, dann auch nur mit unseren Werten“ versehen.

Manche Werte sind allerdings nicht verhandelbar

Nichtsdestotrotz gibt es selbstverständlich Werte und Rechte, die nicht verhandelbar und die dementsprechend auch bei einer Fußball-WM bzw. ihrer Vergabe zu respektieren sind.

Erfüllt ein potenzielles Gastgeberland diesen Wertekodex nicht, bleiben zwei grundsätzliche Handlungskonzepte: entweder die WM wird nicht in dieses Land vergeben, oder das Land hat nach der Vergabe ausreichend Fortschritt nachzuweisen. Die Vergabe der WM nach Katar beruft sich im Nachhinein auf letzteres der beiden.

Dieses Handlungskonzept war im Fall der WM-Vergabe nach Katar allerdings in hohen Maßen fehlerhaft und hat dadurch einen gefährlichen Präzedenzfall für die Zukunft geschaffen.

Lücken der Legitimation

Die grundsätzliche Problematik mit dieser Art der Legitimation beginnt damit, dass sie erst im Nachhinein vorgeschoben wurde.
Bei der Vergabe war eine Verbesserung von Arbeitsbedingungen und der Menschenrechte überhaupt kein Thema. Erst nach einer Vielzahl von besorgniserregenden Berichten und öffentlicher Empörung haben sich Verbände und weitere Akteure mit dieser Thematik beschäftigt.

Dementsprechend wurden Veränderungen in Katar selbst auch erst als Reaktion auf externen Druck vollzogen und nachdem bereits tausende Menschen der Bau- und Arbeitspolitik im Golfstaat zum Opfer gefallen waren.

Unsere Verbände – und dabei in erster Linie die FIFA – haben sich damit einer essenzielle Handlungsoption beraubt: eine Weltmeisterschaft nach der Vergabe, aufgrund drastischer Verfehlungen, wieder zu entziehen.

Die "Lex Colombia"

An diesem Punkt sollte man sich den einzigen Präzedenzfall in diesem Kontext vor Augen halten; die WM 1986 fand nicht wie ursprünglich geplant in Kolumbien statt, sondern in Mexiko. 1982 musste der kolumbianische Staatspräsident Belisario Betancur die Austragungsrechte unter Druck der Weltöffentlichkeit zurückgeben. Politische und gesellschaftliche Instabilität – Stichwort Pablo Escobar – und dramatische Rückstände beim Bau von Infrastruktur machten diesen Schritt notwendig. Entscheidend dafür war ein mit einem Ultimatum versehender Forderungskatalog der FIFA, welcher nicht mehr erfüllt werden konnte.

Dieser Präzedenzfall steht im Zusammenhang mit Katar sinnbildlich für die Vergabekriterien der FIFA: Eisenbahnlinien und Stadionkapazität sind wichtiger als Menschenrechte oder -leben.

Der fehlende Kriterienkatalog machte somit im Fall Katar einen Entzug unmöglich. Stattdessen fanden oberflächliche Anpassungen statt.

Der Vergabe-Ethik bleibt also nichts anderes übrig als sich auf einen positiven Wandel nach tausenden von Toten zu berufen.

Ein toxischer Freifahrtschein für die Zukunft

Durch diese Methodik und Legitimationslogik wurde im Endeffekt ein Freifahrtschein geschrieben: Man kann grundsätzlich erst mal verbrechen, was man will. Es wird keine Konsequenzen haben. Im schlimmsten Fall muss man danach oberflächlich nachjustieren.

Diese Dynamik lässt befürchten, dass Katar nicht die letzte WM ihrer Art mit all ihren menschlichen und gesellschaftlichen Katastrophen sein wird. Stattdessen setzt sie sich an die Spitze fragwürdiger WM-Austragungsorte, die u.a. das faschistische Italien, ein Militärjunta-geführtes Argentinien und ein kriegslüsternes Russland beinhalten.

Ergo: man hat sich die Option genommen wirklich etwas zu verändern. Andere können immer auf den Präzedenzfall Katar zeigen und argumentieren „da sind 6.500 Menschen gestorben und freie Meinungsäußerung wurde unterdrückt. Was wollt ihr jetzt eigentlich von uns. Wir machen unsere WM so wie wir sie wollen“

Länder wie Nordkorea sollten bei einer möglichen Bewerbung also beste Aussichten haben…

Was sich ändern muss

Es steht also außer Frage, dass sich bei Vergabepolitik und -kriterien der großen Verbände dringend und schnell etwas ändern muss:

  1. Ein klarer Kriterienkatalog der Verbände, welcher nicht nur ökonomische und infrastrukturelle Kriterien beinhaltet, sondern auch grundsätzliche gesellschaftliche und politische.

  2. Ein umfassender Report zu diesen Kriterien seitens der Bewerberländer als Teil der Bewerbung.
    Bei Nichterfüllung ein Konzept zur Verbesserung.
    Fortschritte und Verbesserungen müssen vor der Vergabe implementiert werden. Nicht danach.

  3. Eine strikte Analyse von Implementierung und (Nicht)Erfolgen vor und nach der Vergabe.
    Gesellschaftliche und politische Kriterien müssen genauso transparent bewertbar sein wie ökonomische.

  4. Die Definierung von klaren roten Linien. Vorbild: die „Causa Colombia“. Werden bestimmte Kriterien nicht erfüllt droht der Entzug. Hier ist Transparenz seitens der FIFA und ein fairer Dialog auf Augenhöhe notwendig.

Prinzipiell wäre es also nicht unmöglich eine tödliche WM wie in Katar in Zukunft zu verhindern. Die Verantwortung dafür liegt aber in erster Linie bei der FIFA.
Jetzt hat die FIFA natürlich nicht diesen Anspruch. Aber uns tut es gut genau diesen Anspruch zu haben. Dadurch können wir erstens mehr verändern und sind außerdem deutlich glaubwürdiger in unserer Kritik.

Be fearless. Be focused. B42.